Letzthin habe ich etwas getan, was ich viel zu selten tue: Ich habe meinen Schülerinnen und Schülern erklärt, warum ich etwas thematisiere und was sie dabei lernen können.
Viel zu selten stelle ich mir diese Fragen. Warum liegt mir dieses Thema am Herzen? Was lehrt uns dieser Gegenstand? Oder in der pathetischeren Version: Was lernen sie in dieser Lektion fürs Leben, für die Zukunft?
In besagter Lektion ging es um ein 12/8 Afro Cuban Bell-Pattern. Ich finde es spannend, wie unser europäisches Rhythmusgefühl komplett versagt, wenn wir uns mit afrikanischen Rhythmen beschäftigen. Wir haben also untenstehendes Pattern mit verschiedenen Schrittfolgen kombiniert und die zwölf Schläge mal in vier, sechs oder drei Päckli aufgeteilt. Jedes Mal wirkt das Muster komplett neu und anders strukturiert.
Das war eine Herausforderung. Es ist schon schwierig genug, dieses Bell-Pattern mit einer Schrittfolge zu kombinieren. Wenn man die Schritte danach wechselt, ist man wieder auf Feld Eins. Man kann nicht an das vorher Gelernte anknüpfen, das vertraute Bell-Pattern wirkt wieder wie eine unüberwindbare Hürde. Das verunsichert und irritiert.
Für mich liegt in dieser Irritation liegt die ganze Kraft. An eine Wand zu stossen, die vorher nicht da war, dieses Gefühl ist eine zutiefst menschliche Erfahrung. Das Kleinkind, das eben noch stolz die ersten Schritte vorgeführt hat, stolpert über die Zimmerschwelle. Oder globaler: Eine Gesellschaft, die eben noch grenzenlose Mobilität gepredigt hat, befindet sich plötzlich im Lockdown. Es geht nicht mehr so wie vorher. Das nervt, das irritiert!
Die Irritation war Treibstoff für Revolutionen und Mondraketen, sie hat Kunst, Erkenntnis und Biografien geprägt.
Aus diesem Gefühl der Ohnmacht entsteht Neues. Irgendwann mal war jemand genug genervt vom Anschieben schwerer Transportschlitten, sodass er das Rad erfand. Die Irritation war Treibstoff für Revolutionen und Mondraketen, sie hat Kunst, Erkenntnis und Biografien geprägt.
Und so erklärte ich meiner Klasse, dass es meine Aufgabe als Lehrer sei, sie immer wieder zu irritieren und ihr Gleichgewicht zu stören. Auf diese Weise müssen sie ihre festgefahrenen kognitiven Muster hinterfragen und versuchen, selbst ein neues Gleichgewicht herzustellen. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat diesen Prozess als «Äquilibration» beschrieben (1).
Mir hat es imponiert, mit wie viel Gelassenheit meine Schülerinnen und Schüler sich auf meine Irritationen eingelassen haben. In ihrem Alter sind sie sich gewohnt, Neues auszuprobieren, alte Strukturen zu hinterfragen und die Grenzen neu auszuloten. Mir wurde wieder einmal bewusst, was für ein Privileg es ist, mit Jugendlichen zu arbeiten, und mit ihnen gemeinsam aufs Neue die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Aber auch die Jugendlichen haben ein grosses Privileg: Sie dürfen und müssen uns Lehrpersonen immer mal wieder aus dem Gleichgewicht werfen und erkennen, dass auch unsere Schlösser teilweise nur aus Sand gebaut sind. In den Momenten, wo wir gemeinsam wieder ein neues Gleichgewicht suchen, da passiert wirklich Bildung – für meine Schülerinnen und Schüler und für mich.
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