„Weniger durch das Spielen kann man junge Leute an Neue Musik heranführen als durch die eigene Erfindung. Das macht sie toleranter gegenüber Neuer Musik, neuer Kunst im allgemeinen.“ ((Vinko Globokar zitiert nach Beck, Sabine (2012): Vinko Globokar. Komponist und Improvisator. Marburg: Tectum Verlag, S. 83.))
Wie kann man Schülerinnen und Schülern Neue Musik vermitteln? Eine Voraussetzung ist, dass die Lehrperson selbst dieser Musik neugierig und vorurteilsfrei begegnet. „Aber Neue Musik ist wie jedes andere Kunstwerk kein Objekt das durch genügend Vorwissen endgültig verstanden werden kann. Ein Schild im Straβenverkehr hat eine Bedeutung, die für den Betrachter gleich bleibt, sobald er sie gelernt hat. Bei musikalischen Kunstwerken wie Neuer Musik wird der Hörer aber aufgefordert, das Gehörte immer wieder neu in Beziehung zu seinem musikalischen Konzept zu setzen. Da dieses durch unterschiedliche Erfahrungen geprägt wird, können sich Urteile über Neue Musik innerhalb eines gewissen Zeitraums ändern. Selbstverständlich ändert auch Fachwissen das Urteil über Neue Musik, aber sie erschlieβt sich auch Hörern mit niedrigem Wissenstand. Dementsprechend kann es auch kein einziges als richtig geltendes Urteil über Neue Musik geben. Auch ein vermeintlich negatives Urteil über Neue Musik bei Schülern kann also durchaus akzeptabel sein.“ ((Hering, Christian: Neue Musik als Thema in der Schule. Hamburg: Diplomica Verlag, 2015, S. 46.))
Die Studierenden der Schulmusik II hatten die Möglichkeit Neue Musik selbst zu erfinden und am 28. November 2017 dem Posaunisten und Komponisten Vinko Globokar zu begegnen.
Globokar war vom Atelier Zeitgenössische Musik als Gast an die ZHdK ((Vinko Globokar arbeitete in verschiedenen Workshops mit Studierenden der ZHdK. Sein Schaffen wurde in einem Atelier-Konzert und einem Symposium vorgestellt.)) eingeladen und erläuterte in einem Workshop mit den Schulmusik II-Studierenden seinen musikalischen Werdegang, seine Kindheit in Frankreich und Slowenien und den eher zufälligen Weg von der Unterhaltungsbranche im Radio zum Interpreten Neuer Musik und freischaffenden Künstler. Undogmatisch und selbstverständlich liess der Posaunist seine Erfahrungen der Jazzimprovisation in die musikalische Praxis einfliessen. Mit New Phonic Art spielte er mehr als 150 Konzerte, wobei die Kommunikation nur auf der Bühne stattfand, Absprachen vor den Konzerten oder Diskussionen im Anschluss waren tabu.
Diese Erfahrung der Improvisation notierte Globokar in INDIVIDUUM – COLLECTIVUM, dabei handelt es sich nicht um ein pädagogisches Werk, sondern eine Grundlage für die Arbeit mit Gruppen. Die Studierenden improvisierten zu Modellen aus diesem Werk. Die Sammlung praktischer Anleitungen für das Zusammenspiel und Erfinden von Musik kann bei den Improvisierenden eine Reflexion über Klang und die Entwicklung einer eigenen Sprache als eigenverantwortlich denkende MusikerIn anregen.
Der Komponist erzählte den Studierenden von dem Widerspruch zwischen Vorgabe und Freiheit, der für ihn in der Zusammenarbeit mit Stockhausen evident wurde. Während die Mitglieder der Gruppe New Phonic Art ((Vinko Globokar, Michel Portal, Carlos Roqué Alsina und Jean-Pierre Drouet)) das Zusammenspiel als demokratisch verstanden und die sich entwickelnde Musik Eigentum aller beteiligten Musiker war, empfand Globokar die Rolle Stockhausens als diktatorisch.
Der Posaunist vertritt die Idee, dass die improvisierende Person automatisch Mit-UrheberIn eines Werkes ist. Das künstlerische Ergebnis gehört der Gruppe, die es erarbeitet hat, worauf Globokar die Studierenden nach den Darbietungen hinwies. ((Die Urheberrechtsproblematik ist im Zeitalter des Internets aktueller denn je. Allerdings war Globokar nicht darüber informiert, dass INDIVIDUUM – COLLECTIVUM im Internet frei verfügbar ist. URL: http://www.muetter.at/cms/fileadmin/user_upload/pdf/globokar_individuum_collectivum.pdf [Stand: 12.12.17]))
Da sich die Studierenden durch den Akt des Improvisierens die Musik angeeignet haben, veröffentlichen wir hier die Aufnahme der Improvisation der Studierenden MA Schulmusik II (Kombination der Modelle 1a und 2b aus Heft 1, INDIVIDUUM-COLLECTIVUM). Vinko Globokar steht der “Reduktion der Rezeption auf reines Hören”((Beck, Sabine (2012): Vinko Globokar. Komponist und Improvisator. Marburg: Tectum Verlag, S. 438)) kritisch gegenüber.
Die Frage nach Vorgabe und Freiraum, die Dialektik von Komposition und Improvisation und der Stimme des Individuums im Kollektiv zieht sich durch sein Schaffen.
„Ich bin in meinem Leben als Interpret eine Menge von Zuhörern begegnet, aber ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht ein Publikum ist, das ich vor mir habe, sondern Individuen, von denen nicht zwei dieselben Lebenserfahrungen haben. Ich komponiere ein Werk. Ist es fertig, stecke ich es in eine Flasche und werfe es in das “Meer der Hörer”, natürlich ohne eine Vorstellung von der Identität des Finders oder der Finderin zu haben. Der einzige Kommentar, den ich machen kann, ist: “Sie mögen es? Sehr gut! Sie mögen es nicht? Auch gut! In jedem Fall ist es zu spät, ich denke bereits über das nächste Werk nach.” ((Globokar, Vinko (2004): Der Engel der Geschichte / 3. Teil: Hoffnung. Werkbeschreibung. URL: http://www.ricordi.com/-/media/Files/PDF/Ricordi/Background-Information/Globokar/Website_Globokar_Werkbeschreibung_Der-Engel-der-Geschichte.pdf [Stand: 6.12.17]))
Als wichtiger Vertreter Neuer Musik und durch seine Zusammenarbeit mit vielen zeitgenössischen Persönlichkeiten ((Studium bei René Leibowitz, Zusammenarbeit unter anderem mit Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio und Mauricio Kagel)) , aber auch als Künstler, der durch sein Schaffen eingebettet ist in den Zeitgeist ((“Diese Wende zum freien Improvisieren ist nicht ohne den historischen Kontext zu verstehen und zog sich als experimentelle Tendenz durch alle musikalischen Genres, wenn nicht der künstlerischen Disziplinen überhaupt.” (Vgl. Beck, Sabine (2012): Vinko Globokar. Komponist und Improvisator. Marburg: Tectum Verlag, S. 71) Als Zeitphänomen über verschiedene Genres ist das Erforschen von Klang und Experimentieren auch im Free Jazz, Pop und Rock (z.B. Jimi Hendrix) zu finden. Parallel zu Joseph Beuys fordert Globokar: Jeder ist Musiker! Alles ist Musik! Alles kann zu Musik werden! INDIVIDUUM – COLLECTIVUM, Modell 30c)) , hinterliess Globokar bei den meisten Anwesenden einen tiefen Eindruck.
Den Anwesenden empfahl Vinko Globokar: „Wenn du anfängst zu Musizieren – hör auf zu Denken. Wenn du anfängst zu Denken – hör auf zu Musizieren.”
Wie vermittelt ihr Neue Musik?
Welche Erfahrungen habt ihr mit der skeptischen Haltung eurer SuS gegenüber Neuer Musik gemacht?
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