Christopher Wallbaum (ed.): Comparing International Music Lessons on Video. OLMS: Hildesheim, New York 2018. Incl. 10 DVDs (comparing.video.)

Christopher Wallbaum

Geboren 1956 in eine protestantische Hamburger Kirchenmusikerfamilie, habe ich in an der Musikhochschule Lehramt Musik mit zusätzlichem Wahlfach Jazz studiert. Auf einer Atlantiküberquerung habe ich Geräusche und Interviews aufgenommen und das 55-minütige Radio-Feature Crossover – grundlos zwischen allen Ufern daraus gemacht, das von 5 Sendern übertragen wurde. Ich war 12 Jahre Musiklehrer in einem Modellversuch zu fächerverbindendem Unterricht, habe promoviert über Produktionsdidaktik und ästhetische Erfahrung bei Herrmann J. Kaiser und bin seit 2002 Professor für Musikpädagogik /-didaktik in Leipzig. Seit meinem Studium bei Herrmann Rauhe (Buch: Handlungsorientierter Musikunterricht) und Jens Peter Reiche (vergleichender Musikwissenschaftler) interessiert mich nicht nur, wie man welche Musik macht und unterrichtet, sondern zugleich immer auch, warum und warum so und nicht anders.

Ein Beispiel aus dem Buch-Video-Paket: Wenn es darum geht, zusammen mit einer Gruppe beim Musizieren in einen pur sinnlichen Zustand der Welt- und Selbstwahrnehmung zu kommen, dann muss ich eine Unterrichtssituation anders gestalten als wenn es darum geht, individuell abrechenbare Teilkompetenzen zu erwerben. (Vergleiche dazu die Bavaria-Lesson und die Scotland- oder Sweden-Lesson auf DVD und die Beschreibungen von deren Wahrnehmung durch Nationale Experten im Buch. Sichtweisen auf diese Stunden bieten die Analytical Short Films der Buchautoren, sie finden sich auf comparing.video/Analytical Short Films/II.1/ASF I bzw. II.7/ASF 1 bzw. II.8/ASF 1)

Wie komme ich dazu, „guten“ Musikunterricht aus sieben Ländern aufzunehmen?

… und zwar mit mehreren Kameras, und die Videos nicht zu einem Film zusammenzuschneiden, sondern alle Videostreams nebeneinander auf einer DVD stehen zu lassen. („Gut“ bedeutet hier übrigens, dass die aufgenommene Lehrkraft ihre Stunde gut findet.) Der Grund liegt in den Antworten auf folgende Fragen, die eigentlich rhetorisch sind:

Wie viel Musikunterricht außer dem, den wir als Schüler*innen erfahren haben, kennen wir überhaupt? Oder als Lehrende: Wie viel mehr als den eigenen Unterricht kennen wir? Oder in der Lehrerbildung: Wie viel außer den Praktiken in unserer Gegend kennen wir? Geht es vielleicht auch ganz anders? Oder macht die Globalisierung vielleicht alle Schulen und mit ihnen auch allen Musikunterricht auf der Erde gleich?

Es gibt auch noch eine Frage in Bezug auf musikpädagogische Theorie. Ich war mir nämlich nicht immer ganz sicher, ob das Theoretisieren in der wissenschaftlichen Musikpädagogik noch „geerdet“ ist, mit anderen Worten: Besteht zwischen Theorietexten zum Musiklehren & -lernen und der bzw. einer Unterrichtspraxis (noch) ein Zusammenhang, oder haben einige vielleicht schon abgehoben? Dieser Frage ging schon mein Vorgängerprojekt nach, das 2010 unter dem Titel Perspektiven der MusikdidaktikDrei Stunden im Licht der Theorien erschien. Darin wurden deutschsprachige Musikdidaktiker*innen aufgefordert, ihre Theorien in Bezug auf drei multiangle DVDs von Musikunterricht aus Deutschland „bei der Arbeit“ zu zeigen. Nach diesem national fokussierten Projekt ergab sich beinahe zwangsläufig die Frage, wie Musikpädagogik in anderen Ländern praktiziert wird.

Wie komme ich dazu, dieses Buch zu schreiben?

Zunächst interessierte mich, mit den Augen von „National Experts“ der jeweiligen Länder in die aufgenommenen Stunden zu sehen. Um möglichst auch implizites Wissen der Experten zu erfahren, bat ich jedeN, einen zweiten Analytical Short Film (ASF) zu einem für sie fremden Aspekt einer der anderen Stunden zu schneiden. Als Sprache haben wir uns der heutigen Lingua franca bedient: Englisch. Und um verschiedenen Schwierigkeiten, die sich in der internationalen Kommunikation und in der Kommunikation über Unterricht auf Video ergeben, zu begegnen, erfand ich zusammen mit einer Arbeitsgruppe, die sich anfangs aus Studierenden und mir zusammensetzte, den Analytical Short Film (ASF), der sich dann auch hochschuldidaktisch als dankbar erwies. Es macht Spaß, sich durch selbst geschnittene ASFs mit anderen über Musikunterricht zu verständigen.

Den Abschluss der Vorarbeit zum Buch bildete ein Symposium, zu dem sich alle Beteiligten 2014 in Leipzig zum Austausch über die Musikstunden auf Video trafen. Es gab auch verschiedene Plena, die wir sämtlich mitschnitten und später transkribierten und auswerteten. (Ausführlich dazu in der Introduction und im Conference report von Daniel Prantl & Simon Stich.)

Das Schreiben des Buchs dauerte mehrere Jahre. Zusammen mit acht National Experts mussten Wege entwickelt werden, Analytical Short Films mit „Complementary Information“ in möglichst einfacher Sprache plausibel und kritisierbar zu verknüpfen. Daniel Prantl analysierte außerdem die Mitschnitte nach der Grounded Theory Methode in Kap. III.1: Talking about music lessons. Er fand Kategorien von Musikunterricht, die sich in der Länder und Kulturen übergreifenden Diskussion als wichtig erwiesen. („Kontrolle“ war eine davon.) Schließlich gab es auch Supervisor*innen des Symposiums. In Kap. III.2 verbindet einer von ihnen – Christian Rolle – konkret Beobachtetes mit grundlegenden Überlegungen: What can we Expect fromInternational Comparison in the Field of Music Education? Opportunities and Challenges.

Über die genannten Texte hinaus entstanden eine umfassende und mit vielen Grafiken anschaulich gemachte Landkarte internationaler komparativer Forschung (mit einem Cube for Comparative Music Education am Schluss, der komplexe Zusammenhänge aller Musikpädagogik anschaulich macht) und zwei einander ergänzende Texte zur Geschichte und Theorie der Videographie und des Analytical Short Films.

Details zum „Making of“, speziell auch zur Sammlung der Stunden finden sich in den Danksagungen an die – außer den Schüler*innen und Lehrer*innen – über hundert Beteiligten.

Was erwartet die Lesenden – und Sehenden und Hörenden? (Zur Rezeption)

Das Buch ist im Mai 2018 herausgekommen und an die Rezensenten gegangen, da ist frühestens im Herbst mit der ersten zu rechnen.

Seit ich das Buch aus den Händen gegeben habe, frage ich mich manchmal, was ich da eigentlich gemacht habe. Ist es das, was mir vorgeschwebt hat, als ich nach dem Vorgängerbuch (siehe oben) angefangen habe, mich nach Aufnahmemöglichkeiten von internationalem Musikunterricht umzusehen? Oder ist es etwas ganz Anderes geworden, das ich erst aus der wachsenden Distanz erkenne?

Kürzlich fragte mich die Herausgeberperson einer Zeitschrift, da sie die eine Person nicht für die richtige für dieses Buch hielt, was ich von einer anderen als Rezensentin hielte. Ich dachte einerseits: Ja, deren Perspektive auf die videographische und empirisch forschende Seite des Buchs würde mich sehr interessieren, auch und gerade ihre zu erwartenden Bedenken und Einwände aus dem aktuellen Status quo der Forschung. Andererseits hätte ich mir auch die andere Person als „richtig“ für das Buch vorstellen können, auch wenn diese weder komparatistisch noch videographisch, empirisch oder unterrichtspraktisch besonders ausgewiesen ist, sondern eher philosophisch kritisch.

Die Frage nach der richtigen Rezensentenperson ist vielleicht gar nicht zu beantworten. Sarah Hennessy, die das Projekt als native speaker aus England sprachlich und als Musikpädagogin mit viel internationaler Erfahrung begleitet hat, hat dem BJME (British Journal of Music Education) empfohlen, zwei Rezensenten mit verschiedenen Ausrichtungen darauf anzusetzen. Und nicht, weil sie wusste, dass das Buch Texte von durchaus unterschiedlichen Ansätzen enthält. (Die Beiträge kommen aus sieben Ländern.) Das Buch hat sowohl Facetten, die für den Einsatz in der Teacher Education geeignet sind, als auch solche, die diese reflektieren. Und es hat eine komparative und empirische Dimension und eine, die reflektierend in Unschärfezonen der gängigen empirischen Forschung navigiert.

Ich selbst bin im Zuge des Schreibens zunehmend auf die Praxistheorie (bzw. Praxeologie) nach den Philosophen, Kultur- und Sportsoziologen Schatzki, Reckwitz und Alkemeyer gestoßen, für die kennzeichnend ist, dass das Theoretisieren prinzipiell in Tuchfühlung mit Empirie praktiziert wird. Genau solche Verbindung liegt in der Verknüpfung von Unterrichtsvideos und Buch vor.

Ich riskiere mal den Versuch, eine Perspektive auf dieses Buch zu skizzieren, die für Sehende, Hörende und Lesende mit philosophischer Neigung spannend sein könnte. Es wäre ein Blick auf das Ganze, ­ eine Konstellation von Teilen (Kapiteln, DVDs, analytischen Kurzfilmen), die durch ihre Anlage einen globalen Blick auf “Music Education” anbietet und beim Nutzer auch dann generiert, wenn er musikpädagogisch miteiner lokalen Perspektive startet (vgl. die Astronauten-Metapher S. 405). Das Herzstück des Ganzen wäre dann der essayistische Exkurs “Dealing with Unschärfe” (101-109). In diesem Sinne kann das Ganze ein zwar unvollständiges und unscharfes aber: Bild sichtbar machen (wie im Fall des Stuhls, Fig. 6, S. 109).

 

Wir danken Christopher Wallbaum für den persönlichen Einblick und  freuen uns, mit euch über sein Buch zu sprechen.  Dieses kann im Büro 5.B01 und im MIZ eingesehen und ausgeliehen werden. 

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